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Schattenrisse von Kathrin Karras

Anke Zeisler

Technisches Raffinement finden wir in allen Medien der Bilder, auch in der Malerei oder der Zeichnung. Das oft gut gehütete Geheimnis und die daraus entstehende Einzigartigkeit einer praktischen Herstellung erweitern sich bei der Fotografie, wo der Technikanteil um einiges größer ist, in eben jenem Maße. Hergeleitet aus dem altgriechischen photós und graphein, Licht plus Zeichnung bzw. Malerei bedeutet, dass nicht ein, sondern zwei Grundelemente im Wortsinn etwas Dauerhaftes bilden, ein Foto. Und die Logik sagt, dass sich die Herstellungsmöglichkeiten mindestens verdoppeln. Aber das ist nicht die genügende Reichweite, die die Fotografin Kathrin Karras in ihren Werken sucht und erprobt.

Man kann sicher sein, die Lichtbildnerin wurde unzählige Male nach technischen Details gefragt. Beginnen wir auch zu fragen: Was sind Schattenrisse? Sind sie technischer Natur oder hier – es ist immerhin der Titel dieser Serie von Fotoarbeiten – eher Verkleidungen und Verwandlungen, Zauberformen?

Was die mechanische Seite betrifft, sind Schattenrisse die von einer Kontur umschlossene Fläche, abgegrenzt von einem Hintergrund. Zudem impliziert Schatten immer auch Licht und ein Riss ist nicht allein das ruckartige Abtrennen, sondern auch das Ritzen, aus dem die Wortbedeutung des Zeichnens hervorging. Schattenriss – Lichtzeichnung.

Nun sind die in der Fotografie möglichen Techniken in herausragender Weise geeignet, uns zu beeindrucken. Weil wir annehmen, im Grunde etwas Glaubwürdiges zu sehen. Denn mithilfe des Lichts werden Gegenstände der Realität direkt in die Zweidimensionalität transformiert. Das Reale erscheint vor uns als Wiedergabe seiner Gestalt, wohlwissend, dass sie allein schon durch den fotografischen Prozess eine Verfremdung sein muss. Aus Raum und Körper wurde Fläche, aus Farbe vielleicht Schwarzweiß, Proportionen, Schärfen und Unschärfen sind verändert. Schließlich ist das „Auge“ der Fotomaschine nicht unser natürliches Auge.

Seit ihrer Erfindung gibt es zudem jene vom Lichtbildner beabsichtigten Veränderungen, die ein Foto zu einem Bild im Kunstsinn machen können.

Schattenrisse also als poetische Konstrukte?

Die Frage ist hier schon die Antwort. Mechanik ist das Werkzeug, ähnlich wie Stift und Pinsel. Mit Licht, Maschine und Chemikalien jedoch auf anderer Basis. Hier ist ein Potential, das real Vertraute traumhaft-unwirklich darstellen zu können. Wie in Kathrin Karras‘ Werken kann es Phänomene unterschiedlicher Augenblicke bildhaft verschmelzen. Oder durch Mehrfachbelichtungen eines Ortes vergehende Zeit abbilden. Denn was ist diese anderes als ununterbrochene Bewegung und Veränderung? Erzeugt wird damit bei uns ein Gespür für die Verbindung auseinander liegender Momente, manchmal unheimlich oder sogar gespenstisch. Gespenst – Gespinst? Ähnlich vielleicht wie sich über Wortverwandtschaften ein Sinn finden, ein tieferes Verständnis erzeugen lässt, können fototechnische Prozesse metamorphisch Bilder finden, die in verwobenen Schichtungen Verschiedenes zusammenbringen und so Unsichtbares sichtbar machen.

Die Fotokünstlerin sagt, Mittelpunkt meiner Arbeit ist stets der Mensch (1). Und tatsächlich bevölkert er jeden ihrer Schattenrisse. Hunderte Familienfotos hatte sie geerbt, auf Flohmärkten gestöbert und neue Aufnahmen gemacht.

Die Schattenrisse sind immer noch ihr aktuelles Projekt, das sie 2010 begann und bis heute leidenschaftlich weiterführt. Sie hat – das muss an dieser Stelle gesagt sein – auch anders gewichtete Serien geschaffen, so etwa ihre dokumentarisch angelegten Schwarz-Weiß-Porträts mit dem Titel Land leben. Aber mit ihren Schattenrissen hat sie etwas Neues begonnen, es wurden im malerischen Sinn Bildfindungen. Rätselhaft, surreal, eindringlich. Es sind Abstraktionen. Sie sollen etwas zum Ausdruck bringen, das, wollte man es mit Worten schildern, nur Satz für Satz, also nacheinander erzählt werden kann. In einer bildnerischen Verschmelzung, wie die Fotografin es zeigt, wird etwas vielschichtig Komplexes, das es tatsächlich gibt, in einem einzigen Moment zum Ausdruck gebracht. Kathrin Karras sagt: Fotografie ist für mich eine Spurensuche im Innen und im Außen (2). Was meint sie? Spuren wovon?

Sie kombiniert, probiert, ertastet etwas, das sie sprachlich verschiedentlich umschreibt. Innen – Außen – Mittelpunkt zum Beispiel. Brauchen ihre Fotos Titel? Die Fotografin macht es sich damit nicht leicht, sie schreibt: Was die einzelnen Titel zu den Bildern betrifft, bin ich einfach noch nicht ganz durch mit dem Hin- und Herwälzen (3). Schließlich gesteht sie ihre Überlegungen, für die Bildtitel eine wortgedankliche Anleihe bei Else Lasker-Schüler machen zu wollen. Die bedeutende Lyrikerin hat mit dem Bildreichtum ihrer Sprache bekanntlich zahlreiche Künstler inspiriert. Ihre Verwandlungen von Identitäten als Form von Zauberei, um Andersartiges zusammenzuschweißen, das doch als verwandt erkannt wird (4) – davon offenbart sich deutlich auch etwas in den Bildern von Kathrin Karras. Sie zitiert die Dichterin: im schoß der zeitlosen oder tausendundabertausendweit. Das schafft wiederum Verknüpfungen, etwa zum gerade erschienen Band von Francois Cheng Über die Schönheit der Seele. Da findet er: Die Seele lebt nicht im Lauf der Zeit. Sie findet ihre Ruhe in den Welten, die die Träumerei imaginiert … Die Gedanken verfeinern und vermehren sich im gegenseitigen Umgang der Geister. Die Bilder vollbringen in ihrem Glanz eine ganz einfache Kommunion der Seelen … (5)

Versenken in die Bildwelt von Kathrin Karras, Mitgehen auf die Fährten ihrer Spurensuche. Das kommt der Aufforderung gleich, selbst innezuhalten, und das zu suchen, wovon tatsächlich, wenn überhaupt, nur Spuren zu finden sein können. Das also, dem die Lichtbildnerin auf die Spur zu kommen versucht. Man spricht heute kaum davon, es gibt eine Scheu, von eben jenem Teil unserer Dreiheit, der Seele zu sprechen. Denn anders als Körper und Geist lässt sie sich weder messen noch sehen. Träume und manchmal ein Bild könnten vielleicht als ihr poetischer Fußabdruck oder sogar als Schatten ihrer Existenz erkannt werden.

1 Kathrin Karras in einem Statement 2016
2 ebenda
3 Kathrin Karras am 27.6.2018 in einer E-Mail an die Verfasserin
4 Ruth Klüger: Else Lasker-Schüler, In Theben geboren, Suhrkamp 1998
5 Gaston Bachelard, zitiert von Francois Cheng in ›Über die Schönheit der Seele‹, C. H. Beck, München 2018